Zum Tode von Großmeister Hirokazu Kanazawa – (Lehrmeister von Sensei Norbert)
(03.05.1931 – 08.12.2019)
Eine Würdigung und ein Klärungsversuch seiner
einzigartigen Ausstrahlung (von Norbert Schiffer )
Wenn man von den ganz großen Budokas und Lehrern unserer Zeitepoche spricht,
taucht unweigerlich der Name Hirokazu Kanazawa auf. Nicht allein die Tatsache, daß er in früheren Jahren die japanische,
Meisterschaft in Kata und Kumite gewinnen konnte, ließ ihn zu dem werden, was er heute für ungezählte Karatekas auf der ganzen Welt verkörpert – ein Karateka,
Großmeister, Persönlichkeit und Instruktor der Superlative. Seine Lehrer waren Gichin Funakoshi und Masatoshi Nakayama, welche als Väter des Shotokan Karate angesehen werden. Von daher erklärt
sich seine technische Perfektion in der Karatekunst, zumal Kanazawa ein LiebIingsschüler von Japan Karate Association (J.K.A.)- Chefausbilder Masatoshi Nakayama war. Aber das allein war es nicht, was die Persönlichkeit und Größe von Hirokazu Kanazawa ausmachte. Es war dies, daß er nicht nur Lernender und perfekt Ausführender war, sondern zugleich über die Fähigkeiten verfügte, geistig wie körperlich Gestalt werden zu lassen, was dem inneren Bild der „alten“ Großmeister (und seiner Selbst mit eigenen Visionen) entsprach.
TALENT PUR
Hirokazu Kanazawa brachte neben allen körperlichen und geistigen Voraussetzungen, neben aller Willenskraft und allem Trainingseifer auch die Persönlichkeit mit, aus der die ganz ganz großen Meister geschnitzt sind. All dies zusammen ließ den 1931 in Iwate geborenen Hirokazu Kanazawa zur Ausnahmeerscheinung werden. Oftmals war man versucht, dieses seltsame Fluidum klarer zu umreißen, es auf einen Nenner, auf eine Formel zu bringen; versucht, es erklärbar und somit auch kopierbar zu machen. Diese Versuche mußten mehr oder weniger mißlingen, da sich das „Gesamtspektrum Kanazawa“ in dieser Konstellation natürlich nicht auf einen theoretischen Nenner bringen und erst recht nicht kopieren ließ. Nein, Hirokazu Kanazawa gewann all dies aus dem Budo und aus seiner Persönlichkeit selbst. Meinem Eindruck nach bekundeten sich seine perfekten Techniken nicht als „shosa“ (rein physische Kunst), sondern auch als Ausdrucksmittel, in denen er
Gestalt werden ließ, was seinem inneren Bilde entsprach. Hier lag denn auch gleich ein wesentlicher Punkt seiner besonderen Ausstrahlungskraft im Karate. Etwas gestalten (Tat und Werk) kann immer nur Praxis sein. Von daher gesehen verstand er – meinem Empfinden nach – das Karate als Exerzitien-Praxis, welche sich nach außen durch seine Technik (shosa) bzw. Form (Kata-Koshi) zeigte, und nach innen als Persönlichkeits und Charakterschulung bekundete. Hierin lag denn auch einer der „Schlüssel“ zur Person Kanazawas, welcher sich der Technik nicht nur der Technik wegen befleißigte, sondern sie offensichtlich auch als eine „Weise des Weges“ (michi-suji-Do) praktizierte. Um es noch deutlicher zu sagen: Die Technik (shosa – rein physische Kunst) ist demnach nicht nur zur Körperertüchtigung, nicht nur zur Selbstverteidigung, nicht nur für das Turnier, nicht nur für die Pokalmeisterschaft zu trainieren, sondern im Sinne des Do auch als eine „Weise‘ des Weges“ (michi-suji) zu praktizieren. Alles andere muß sich nach dem Verständnis vieler Großmeister weitgehend in reiner Geschicklichkeit begrenzen. Ohne das DO wäre es demnach nur reine Technikbeherrschung, deren Ausführung durch das Altern des Menschen zeitlich begrenzt – und nicht „allumfassend“ formend ist.
UNIVERSITÄTSSTUDIUM DER VOLKSWIRTSCHAFT
Auch Hirokazu Kanazawa hat den Alterungsprozeß nicht aufhalten können, wenngleich er extrem lange ein brillanter Techniker blieb. Viele Stationen hat er durchlaufen, wie z. B. die Takushoku Universität, an der er in den fünfziger Jahren Volkswirtschaft studierte und in dieser Zeit auch die J. K. A. Meisterschaft in Kata und Kumite gewann. Anfang der 60er Jahren war er Gasttrainer von Hawaii sowie Begründer und Cheftrainer der Hawaii-Karate- Association. In den 60er Jahren wurde er zudem Nationaltrainer von England und trat anschließend als Bundestrainer in die Dienste des Deutschen Karate Bundes ein. Nachfolgend wurde er innerhalb der J.K.A. Europa-Cheftrainer . Danach avancierte er zum Vorstandsmitglied der Japan Karate Association und zugleich zum Chef der J. K. A- International Karate Abteilung.
SKI CHEFINSTRUCTOR
Bis hierhin verlief die außergewöhnliche Karriere von Kanazawa innerhalb der J. K. A sehr steil, sowie über und vorausschaubar. Wohl kaum jemand zweifelte daran, daß er es sein würde, der später die Führungsposition von Prof. Masatoshi Nakayama in der J.K.A. übernehmen würde. Doch in den 70ger Jahren überraschte Hirokazu Kanazawa die Fachwelt völlig mit der Gründung seines eigenen Shotokan-Verbandes S.K.I. (Shotokan Karate International), welcher weltweite Verbreitung erreichte. – Sicherlich, eine Ausnahmeerscheinung, wie Kanazawa sie verkörperte, wird und muß immer zum großen Teil auch Individualist sein, welcher sich letztendlich nicht als „herrschender Untertan“ verstehen kann, gewissermaßen also aus dem Teich kollektiver Bestimmtheit hinausschwimmt. Seinen Individualismus zeigte er ja bereits früher durch seine „stille Liebe zum Tai- Chi“ und durch sein intensives Nunchaku-Training. Dies stellte für „den“ Weltspitzen- Shotokan- Stilisten innerhalb der J. K. A beinahe ein Novum dar. Dieser Umstand des Nunchaku -und Tai- Chi-Trainings sowie später auch anderer Karate-Stile neben dem Shotokan, ist aber nicht etwa auf Außenseitertum“, sondern zwangsläufig auf seine Gesamtperson innerhalb seiner Entwicklung zurückzuführen. In diesem Prozeß überschreitet das Individuum abgesteckte Grenzen und entwickelt sein Menschsein durch Sinn-Suche und Zielsetzung für sein jeweiliges Dasein. Hinzu kam natürlich, daß Kanazawa erkannte, daß Einseitigkeit zwangsläufig zur Verkümmerung und somit zur schmalspurigen Basis einer Persönlichkeit führen muß. Darüber hinaus stand natürlich das Interesse eines großen Budo- Mannes an anderen Kampfdisziplinen
und Kampftechniken.
DIE BASIS SEINER AUSSERGEWÖHNLICHEN ERSCHEINUNG
Der Mann mit dem aristokratischen Führungsstil, der Mann- der nach meinem Empfinden- die Karate-Technik als Ausdrucksmittel seiner selbst und als „Weise des Weges“ (DO) begriff, jener Mann, der mehrfach darauf hinwies, daß der Turniersport nur einen kleinen Teil des Karate-Do ausmacht, dieser Mann hat sich vor allem an der Schaffung des „suchenden Interesses“ an den zentralen Dingen des Karate-Do verdient gemacht. Hierauf kommt es an, wenn es gilt, die Idee des Karate-DO mit Leben zu erfüllen, denn der Sinn des Weges (Do) offenbart sich nur dem Suchenden. Rein theoretischem Interesse bleibt er verschlossen. Hirokazu Kanazawa bleibt über seinen Tod hinaus das Beispiel dafür, daß sich das Karate-Do als exercitium
ad integrum versteht. Seine außergewöhnliche Erscheinung und Persönlichkeit basierte auf der Wesensschau (Ken-sei, ken-sho) welche über die Praxis der Selbstaneignung (jitoku) in ihm herangewachsen war.
All dies zusammen ließ ihn mit seiner charismatischen Persönlichkeit und Ausstrahlung, seiner superlativ – eleganten Technik und Körperverfassung, sowie seinem weltmännischem Auftreten – als das erscheinen, was er für ungezählte begeisterte Budokas auf der ganzen Welt war und bleibt: beinahe schon ein Phänomen.
Norbert Schiffer, im Dezember 2019